Von der Freude am bewussten Verpassen

Marisa Reinhard
10 Min. Lesezeit

Endlich mal Nein sagen ohne schlechtes Gewissen? Im Interview erklärt Change-Expertin und systemischer Coach Rebecca Luczak das  Phänomen Joy of Missing Out (JOMO) und wie wir im Alltag mehr Achtsamkeit üben können.

Veröffentlicht am 30. Oktober 2024

Foto von Rebecca Luczak

Frau Luczak, wann haben Sie das letzte Mal entschleunigt?

Rebecca Luczak: Vor ein paar Tagen. Ich habe mir ein Buch geschnappt und bin allein in mein Lieblingscafé gegangen. Das ist für mich zu einem kleinen Ritual geworden. Als meine Schwester letztens Geburtstag hatte, habe ich mir auch bewusst Zeit genommen, um in Ruhe für sie zu dichten. Die wichtigste Regel für mich ist: Das Handy bleibt zuhause.

Haben Sie nicht Angst, etwas zu verpassen?

Nein. Ich möchte mir den Raum geben, um zu lesen oder zu dichten, weil ich im Alltag wenig Zeit dafür habe. Mein Handy lenkt mich dabei ab. Das hat auch mit Resonieren zu tun. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht in seiner Resonanztheorie davon, wie wichtig und schön es ist, sich von etwas berühren oder ergreifen zu lassen. Das geht nur, wenn man den Moment bewusst wahrnimmt.

Menschen fällt es immer schwerer abzuschalten, worauf auch Social Media einzahlt. Das Phänomen Fear of Missing Out, kurz FOMO, beschreibt diese Angst, etwas zu verpassen. Was sind die Gründe?

Es ist mittlerweile selbstverständlich geworden, viel unterwegs zu sein, sich mit Leuten zu treffen. Es liegt einfach im Trend, Dinge zu tun. Daran gewöhnen wir uns: Unser Umfeld macht das so, also machen wir es auch. Wir wollen dazugehören. Menschen haben das Bedürfnis nach Anerkennung und Bindung. Sie denken schnell: „Wenn das alle so machen, muss ich mitziehen, sonst verpasse ich etwas und bin außen vor.“

Durch Social Media wissen wir oft, was andere machen.

Genau das ist der Punkt. Niemand muss mehr Langeweile haben. Vielmehr muss man sich bewusst gegen Reizüberflutung entscheiden. Wir gieren nach neuen Nachrichten, weil sie auf unser Gehirn einen belohnenden Effekt haben. Trifft eine Nachricht ein oder erhalten wir ein Like, werden Glückshormone ausgeschüttet. Fear of Missing Out ist ein Phänomen, das nahezu jeden betrifft. Alles ist so ausgerichtet, dass wir dranbleiben, nichts verpassen wollen. Sich bewusst davon zu entfernen, braucht Training. Wir brauchen Raum und Ruhe, um die Dinge zu tun, die wir selbst können und stärken wollen: kreativ sein, sich selbst Gedanken machen. Das passiert nicht zwischen vielen Reizen. Darauf zahlt auch JOMO ein, also Joy of Missing Out – die Freude, etwas zu verpassen.

Wie hat sich Joy of Missing Out entwickelt? 

Seit Jahren berichten Medien über Fear of Missing Out – oft in Verbindung mit der verstärkten Nutzung von Social Media. Auch auf Instagram oder TikTok sprechen Menschen darüber, wie sie unter der Angst leiden, etwas zu verpassen. Zu jeder Bewegung gibt es dann irgendwann eine Gegenbewegung. Was kann man der Angst, etwas zu verpassen, entgegensetzen? Freude am bewussten Verpassen. Ich finde es jedoch wichtig, diesen Social-Media-Trend auch kritisch zu hinterfragen. Beispiel: Ich poste, wie ich im Spa bin oder am Strand liege und ein Buch lese. Eigentlich ist das genau das Gegenteil von Joy of Missing Out. Nämlich dann, wenn ich mich verpflichtet fühle, solch ein Foto zu posten, um dazuzugehören. Vielleicht hat ein Influencer meines Vertrauens es vorgemacht, aber ich selbst will es gar nicht, gebe dem Druck jedoch nach. Hilfreich ist trotzdem die Botschaft dahinter: Es ist sinnvoll, bewusst zu versuchen, sich Zeit für sich und seine Bedürfnisse zu nehmen.

Zur Person
Rebecca Luczak

Rebecca Luczak hat International Management und Wirtschaftspsychologie studiert. Nach verschiedenen beruflichen Stationen begleitet sie seit 2021 als Change-Expertin und systemischer Coach Veränderungsprozesse bei SIGNAL IDUNA. Neben ihrer Arbeit beschäftigt sich Rebecca Luczak auch privat mit dem Thema „Auswirkungen von Beschleunigung und Dynamiken in der Welt auf den Menschen“.

Rebecca Luczak

Welchem Umgang empfehlen Sie mit Joy of Missing Out?

Man muss die richtige Balance finden. Das Gefühl, etwas zu verpassen, ist normal. Die Frage ist: Wie stark treibt mich das um? Weiß ich, was bei mir selbst los ist oder schaue ich nur bei anderen? Das kann auch in Ordnung sein. Problematisch wird es, wenn ich feststelle, dass ich etwas lebe, was gar nicht zu mir passt, und es mir dadurch nicht gut geht. An der Stelle muss ich in mich hineinhören: Was brauche ich eigentlich – und nicht mein Umfeld?

Manche Menschen tun sich damit schwer, weil es ihnen egoistisch vorkommt.

Das muss nicht bedeuten, dass man sich von allem abschottet. Wichtig ist zu wissen: Was passt denn wirklich zu mir? Was macht mich auf lange Sicht zufrieden? Was sind meine Träume, was möchte ich irgendwann erreichen? Dafür ist das Thema JOMO in meinen Augen sehr relevant: Es hilft dabei, dass wir uns diese Fragen immer wieder vor Augen führen und mehr Achtsamkeit üben. Wo immer ein Social-Media-Trend aufkommt, sollten wir uns nicht verführen oder zwingen lassen. Wir sollten ihn als Anstoß nutzen, um bewusst über Dinge nachzudenken, Gewohnheiten zu durchbrechen und herauszufinden, was wir wirklich wollen. Das kann man auch gemeinsam mit anderen Menschen tun.

Stichwort „tun“. Wie komme ich ins Handeln?

Der erste Schritt kommt automatisch: Man hat einen emotionalen Schmerz. Der kann zum Beispiel durch Inhalte auf Social Media ausgelöst werden. Wenn man das Gefühl hat, dass sie einen selbst betreffen. Wichtig ist dabei, ehrlich zu sein und sich einzugestehen, dass dadurch negative Gedanken oder Gefühle entstehen. Das ist häufig der Knackpunkt: Nicht jede oder jeder ist geübt darin, in sich hineinzuhören und sich selbst zu reflektieren. Das ist aber eine Fähigkeit, die man aufbauen kann.

Sollte ich mich also von Social Media fernhalten, wenn es mir nicht guttut?

Nein, so drastisch muss es nicht sein. Eine Möglichkeit ist aber Einschränkung. Ich kann mir zum Beispiel ein Limit setzen, wie viel Zeit ich auf Social Media verbringen will. Oder ich achte darauf, welchen Accounts ich folge. Ein Warnsignal kann sein, wenn ich ein Bild oder Video sehe und mich frage: Warum habe ich das nicht? Dann hilft es vielleicht, dem Account zu entfolgen und auszuprobieren, wie sich das anfühlt. Man muss sich nicht von null auf hundert ändern. Oft hilft es schon, an eine Gewohnheit anzukoppeln und sie abzuändern – immer so, dass es guttut.

Sie sagten, Selbstreflexion sei nicht einfach. Wie kann ich sie üben?

Wichtig ist, erst mal Klarheit zu schaffen: Was ist der Auslöser meiner Sorge, etwas zu verpassen? Wie fühle ich mich dabei? Warum will ich etwas ändern? Daran sollte man sich immer wieder erinnern. Das klappt zum Beispiel mit kleinen Zettelchen in der Wohnung, am Arbeitsplatz oder festen Zeiten für eine Selbstreflexion. „Ertappen und umschalten“ nennt das die Psychologin Stefanie Stahl. Wir werden darin immer besser, indem wir es wiederholen. Das ist nicht leicht, und das müssen wir üben.

Wie nehme ich Auslöser besser wahr und kann sie reflektieren?

Bereits der bekannte Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat beschrieben, dass Reiz und Reaktion zwar eng aufeinander folgen. Dazwischen gibt es aber einen Raum mit einer Entscheidungsmacht. Wir können diesen Raum vergrößern und bewusster nutzen. Oft haben wir automatisiert, wie wir reagieren, und nehmen Warnsignale gar nicht wahr. Grummelt mein Bauch? Schlägt mein Herz schneller? Wenn ich merke, dass mir etwas nicht guttut, habe ich als Mensch die Chance, das auch durch körperliche Signale bewusster wahrzunehmen. Dann ist wichtig: durchatmen, innehalten und entscheiden, wie ich reagieren will. Wenn mir das gelingt, bin ich beim nächsten Mal viel schneller in der Lage, mich anders zu verhalten.

Joy of Missing Out wird vor allem von der Generation Z getrieben, die in der digitalen Welt zuhause ist. Warum ist diese Entwicklung vor allem in der heutigen Zeit wichtig?

Wenn ich zum Beispiel an meine Großeltern denke, ging es in der Nachkriegszeit um ganz andere Dinge: aufbauen, schnell handeln. Sich Pausen gönnen und nachdenken? Das war Luxus. Zum Glück hat sich das geändert. In der heutigen Zeit ist es für uns alle ein Geschenk, dass wir die Zeit und die Möglichkeit haben, uns selbst zu hinterfragen. Deshalb sollten wir das auch aktiv tun.

Über die Autorin

Marketingmanagerin
Marisa Reinhard

Marisa Reinhard ist Marktmanagerin im Digitalmarketing der SIGNAL IDUNA. Als Expertin für alle Fragen rund um das private und gewerbliche Komposit-Geschäft verfasst sie Ratgeberartikel zu Themen wie Hausrat-, Haftpflicht-, Gebäude-, Kfz-, Unfall- und Gewerbe­versicherungen. Die studierte Wirtschaftspsychologin widmet sich nebenberuflich der Foto- und Videografie. 

Marisa Reinhard

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